Frau Schletterer singt nicht mehr

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Zum ersten Mal im Leben
20.10.2023 15:19

In letzter Zeit bietet Facebook mir immer häufiger kurze Videos an, in denen Kleinst- und Kleinkindern zum ersten Mal in ihrem Leben Sehhilfen aufgesetzt werden, und man beobachten kann, wie sich Erstaunen und große Verblüffung in den Mienen der Kinder ausbreiten. Auf einmal sieht die Welt für sie viel klarer und bunter aus. Was für eine Freude! Strahlen in allen Gesichtern!
Das kann ich mir gut vorstellen, daß das überwältigend für die Kleinen ist und ihr Erleben grundlegend ändert. Ich freue mich also mit ihnen, wenn ich sowas sehe.
Ähnliche Videos gibt es allerdings auch von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die (angeblich) gehörlos geboren wurden und mit Hilfe eines Hörgeräts, das ihnen im Laufe dieser Videos eingesetzt wird, zum ersten Mal im Leben überhaupt etwas hören können. Das Erstaunen der Kleinkinder nehme ich da als glaubhaft ja noch hin. Aber wenn ein Jugendlicher, der noch nie etwas gehört haben soll, nach Einsetzen eines Hörgeräts gefragt wird „Do you hear me?“ und daraufhin bejahend nickt, dann frage ich mich: wie soll dieser Mensch diese Frage denn verstehen können? Wer noch nie jemanden hat sprechen hören, für den muß diese Frage doch lediglich eine Folge von nicht einordenbaren Geräuschen sein. Ja, Geräusche überhaupt zum ersten Mal wahrzunehmen, muß doch derart überwältigend und irgendwie auch verstörend sein, daß man damit doch bestimmt zunächst einmal gar nicht umgehen kann.
Und überhaupt: wenn bei den gezeigten Menschen mit einem „einfachen“ Hörgerät der Hörsinn aktiviert werden kann, wieso hat man dann so lange gewartet, bis man den Betroffenen so ein Gerät gegönnt hat? (Cochlea-Implantate sieht man in diesen Videos nie…) Wieso nicht schon in frühen Kindertagen damit anfangen?
Kurz gesagt: ich bin da sehr skeptisch, ob das nicht wieder (zumindest zum Teil) solche erfundenen Geschichten sind, die nur dazu dienen, die Welt zu mitfühlenden Ahs und Ohs zu bewegen und insgesamt Aufmerksamkeit zu erregen. Das fände ich sehr unanständig.
 
 

Elisabeth Schwarzkopf
Leseherbst

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